Künstliche Intelligenz in der Sozialversicherung – erhebliches Potenzial für Versicherte und Beschäftigte

von Niels Reith

Niels Reith ist Geschäftsführer der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft -und gestaltung e.V. (GVG). Er hat in Marburg und Berlin Politikwissenschaft studiert und ist seit vielen Jahren hauptberuflich und ehrenamtlich für unterschiedliche Verbände tätig – u.a. sieben Jahre als Geschäftsführer des Bundesverbandes Deutscher Berufsförderungswerke und als Vorstandsmitglied des ddn – Das Demographie Netzwerk.

Künstliche Intelligenz (KI) ist längst ein fester Bestandteil unseres Alltags

Egal ob in der Wissenschaft, in Unternehmen, Verwaltungen oder im Alltagsleben. Überall dort, wo größere Datenmengen verarbeitet werden, birgt die KI enormes Potenzial in puncto Effizienzsteigerung. Diese transformative Kraft hat auch die deutschen Sozialversicherungssysteme erfasst. Bereits heute spielt die KI dort eine wichtige Rolle. Sie ist selbstlernend, kann selbstständig Verbindungen ableiten und damit Menschen auch bei analytischen und komplexeren Aufgaben unterstützen. In der Folge kann KI schon heute mehr Tätigkeiten übernehmen als frühere Technologien. So entwickelt beispielsweise die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) ein KI-System, das Mitarbeitende dabei unterstützt, die richtigen Unternehmen für eine Beratung zu Arbeitsunfällen auszuwählen.

Dies ist nur eins von vielen Beispielen, die das große Potenzial zeigen, das die Nutzung der KI für die Systeme der sozialen Sicherung birgt. Zum einen können die Angebote unseres Sozialstaats verbessert und der Zugang zu diesen vereinfacht werden. Zum Beispiel kann im Gesundheitswesen die KI dazu genutzt werden, Krebsdiagnosen zu verbessern. Chatbots assistieren bereits heute bei der digitalen Antragstellung und tragen so dazu bei, dass die Leistungen unseres Sozialstaats von möglichst jedem und jeder in Anspruch genommen werden können.

KI vereinfacht Arbeit der Beschäftigten bei den Sozialversicherungsträgern

Zum anderen kann die Arbeit der Beschäftigten bei den Sozialversicherungsträgern selbst durch den Einsatz von KI grundlegend vereinfacht werden. So kann KI bei der Prüfung und Abrechnung von Leistungen assistieren, die dadurch exakter geprüft und bewertet werden können, beispielsweise bei der Krankenhausrechnungsprüfung. Schon heute nutzen Sozialversicherungsträger KI, um ihre Beschäftigten bei der Identifikation und Auswahl von Regressfällen im Bereich der Betrugsbekämpfung zu unterstützen. KI bietet somit die Chance, Massenverfahren automatisiert bearbeiten zu lassen. Dadurch werden wiederum wertvolle personelle Ressourcen freigesetzt, die an anderer Stelle dringend benötigt werden. Nicht zuletzt die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig eine moderne, effektive Verwaltung ist. Doch schon heute fehlt vielen Verwaltungen des Bundes und der Länder Personal. Zudem ist zu beobachten, dass viele Berufsbilder sich verändern oder nicht mehr gebraucht werden, dafür aber neue Berufe entstehen. Diese Entwicklung müssen wir aufmerksam betrachten und Vor- und Nachteile sorgfältig gegeneinander abwägen. Die Sozialversicherungsträger setzen zum Beispiel verstärkt auf eine Effizienzsteigerung durch KI und Automatisierung, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Das wäre eine mögliche Antwort auf diese Veränderungsprozesse

Die Debatte ist komplex – Chancen sehen

Um die Potenziale der KI weiter zu erschließen, wird es wichtig sein, die KI von allen Seiten zu beleuchten und Perspektiven zusammenzubringen. Abhängig von der jeweiligen Sichtweise oder dem möglichen Einsatzgebiet, können Definition und Chancenbewertung sehr unterschiedlich ausfallen.  Das ist auch u. a. in unserer Diskussionsveranstaltung zum Thema sehr deutlich geworden. Wir haben dort aus unterschiedlichen Perspektiven über die Herausforderungen der Künstlichen Intelligenz in der sozialen Sicherheit diskutiert. https://www.youtube.com/watch?v=Iki113k3T74

Diese sehr spannende Diskussion hat die Perspektivenvielfalt eindrücklich deutlich gemacht. Zum Beispiel bei der Frage der Definition der Begrifflichkeiten oder auch angesichts der Herausforderung, unternehmerische Entscheidungen und ethische Fragen in Einklang zu bringen. Diese Diskussionen müssen wir unbedingt weiterführen.

Viele Fragen sind also zu klären: Wie können wir zum Beispiel große Datenmengen weiter sinnvoll für die Menschen nutzbar machen. Im medizinischen Bereich ermöglicht die digitale Vernetzung von Patientendaten uns zum Beispiel mittlerweile individualisierte und optimierte Behandlungsprozesse. Die KI etabliert sich immer mehr in der Medizin und liefert zusätzliche Informationen. Diese Informationen müssen aber auch verständlich sein und verständlich gemacht werden, damit diese effizient genutzt und von den Menschen akzeptiert werden.

Rechtsbegriffe müssen überarbeitet werden

Auch rechtliche Fragen müssen künftig neu bewertet werden. Wir brauchen zum Beispiel eine kluge Weiterentwicklung des Sozialdatenschutzes. Die Arbeits- und Sozialverwaltung verarbeitet besonders sensible Daten, beispielsweise zu Berufskrankheiten. Diese Daten bedürfen zu Recht eines besonders hohen Schutzes.

Gleichzeitig dürfen viele KI-Anwendungen zurzeit nicht genutzt werden, weil dafür die rechtlichen Grundlagen fehlen. Hier brauchen wir eine gesamtgesellschaftliche Debatte und neue Grundkonsense darüber, in welcher Weise Sozialdaten genutzt werden können – bei ausreichendem Schutz dieser sensiblen Daten. Eine dringend notwendige Weiterentwicklung des Sozialdatenschutzes muss die immer stärkere Automatisierung und Digitalisierung von Verwaltungsprozessen ermöglichen und dabei diese besonderen Schutzbedarfe berücksichtigen. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass die der KI zugrundeliegenden Algorithmen fair und transparent sind, um Diskriminierung zu vermeiden und eine gerechte Entscheidungsfindung zu gewährleisten. Ein positives Beispiel sind die selbstverpflichtenden Leitlinien für den KI-Einsatz in der behördlichen Praxis der Arbeits- und Sozialverwaltung, die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in einem Dialogprozess gemeinsam mit den Trägern der Sozialversicherung im eigenen Geschäftsbereich entwickelt hat.

Eine Reform des Sozialdatenschutzes reicht jedoch nicht aus, um die Potenziale der KI für die Sozialverwaltung nutzbar zu machen. Dafür braucht es „einfaches“ Recht. Nach wie vor finden sich im Sozialrecht jedoch unbestimmte Rechtsbegriffe und Anforderungen, die aus dem analogen Zeitalter stammen. Eine Überarbeitung ist hier dringend erforderlich. In Zukunft sollte die „Logik der Komplexitätsreduktion“ bei der Erarbeitung neuer Gesetze von Beginn an mitgedacht werden.

Insgesamt bietet KI die Chance, die Effizienz unserer Sozialversicherungssysteme zu steigern und gleichzeitig die Bedürfnisse der Versicherten besser zu erfüllen. Transparenz, Datenschutz und „einfache“ rechtliche Regelungen sind dafür entscheidend.#

Niels Reith ist Geschäftsführer der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft -und gestaltung e.V. (GVG). Er hat in Marburg und Berlin Politikwissenschaft studiert und ist seit vielen Jahren hauptberuflich und ehrenamtlich für unterschiedliche Verbände tätig – u.a. sieben Jahre als Geschäftsführer des Bundesverbandes Deutscher Berufsförderungswerke und als Vorstandsmitglied des ddn – Das Demographie Netzwerk.

Seit 2021 verantwortet er die Weiterentwicklung der GVG. Mit ihrer vielfältigen Mitgliederstruktur stößt die GVG seit mehr als 75 Jahren wichtige Zukunftsdebatten in der sozialen Sicherheit an und erörtert mögliche Lösungsoptionen. Die GVG fungiert als Bindeglied und Zusammenschluss verschiedener Akteure des deutschen Sozial- und Gesundheitswesens, darunter Sozialversicherungsträger, Sozialpartner, Leistungserbringer, Privatunternehmen und Verbände.

Innerhalb dieses breit gefächerten Netzwerks wird intensiv über die Zukunft der sozialen Sicherheit diskutiert, auch im Hinblick auf transformative Technologien. Im März 2023 hat die GVG deshalb das Forum Digitalisierung ins Leben gerufen, in dem diskutiert wird, wie die Digitalisierung in der sozialen Sicherung beschleunigt werden kann.

Zurzeit erarbeitet das Forum eine „Roadmap für eine digitale Transformation“ für den Bereich der sozialen Sicherung, in der unter anderem die Themen Künstliche Intelligenz und Sozialdatenschutz behandelt werden. Eine Veröffentlichung ist für Anfang 2024 geplant.

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