Wie agil kann Produktion sein?

von Julian Caligiuri

Im FUTUREwork-Interview erläutert Stephan Jorra, Werk- und Betriebsleiter bei Siemens Energy, warum agile Strukturen auch in der Produktion ein wichtiges Thema sind und wie agiles Arbeiten hier einen echten Mehrwert bringen kann.

Stephan Jorra, Werk- und Betriebsleiter im Schaltwerk Berlin der Siemens Energy

Siemens fertigt an Ihrem Standort Hochspannungsschaltanlagen. Wieso ist agiles Arbeiten ein Thema bei Ihnen?

Für uns geht es nicht darum, unsere Schaltanlagen komplett agil zu fertigen. Es geht um eine Reihe von Projekten an unserem Standort – das sind mittlerweile rund 130. Unsere Vision ist, sichere, zuverlässige und klimaneutrale Schalttechnik für eine nachhaltige Zukunft zu liefern. Dabei sind agile Projekte Teil der Strategie. Wir wollen weg vom klassischen Wasserfall-Projektmanagement. Das heißt, uns eben nicht mehr ewig mit Planung zu beschäftigen, um dann festzustellen, dass es doch anders kommt als ursprünglich vorgesehen. Der große Mehrwehrt agiler Projekte ist Schnelligkeit. Das bedeutet nicht nur Prozesse innerhalb einer großen Organisation zu verschlanken, sondern auch die Fähigkeit schneller und flexibler auf Marktveränderungen reagieren und uns an eine sich verändernde Arbeitswelt anpassen zu können. Das ist ein entscheidender Wettbewerbsvorteil.

Wie agil können denn Beschäftigte in der Produktion sein?

Die klassische Trennung zwischen Produktion, Engineering und R&D [Forschung und Entwicklung] verschwindet immer mehr – dementsprechend verändert sich auch die Arbeit der Beschäftigten in diesen Bereichen. Wir wollen nicht mehr nur in klassischen „White Collar“- und „Blue Collar“-Kategorien denken. Wir brauchen eine „Grey Collar“-Mentalität. Damit meine ich, dass sich auch Beschäftigte in der Produktion in verschiedenen Projekten einbringen. Keiner kennt die Arbeitsschritte besser als die Mitarbeiter vor Ort selbst. Ganz besonders bei der Verbesserung von Arbeitsabläufen oder bei Themen wie Arbeitssicherheit oder Informationsfluss. Die Frage ist dann: Wie würde es aus Eurer Sicht besser, effizienter laufen? So etwas lässt sich häufig nicht mit einem Gespräch in einer Stunde klären. Stattdessen kann konkret an Lösungen in selbstbestimmten und selbstorganisierten Teams mitgewirkt werden.

Wie muss sich die Organisationskultur ändern, damit das funktionieren kann?

In großen Organisationen herrscht oft die Tendenz zu denken: „Da kümmert sich schon jemand drum“. Im Vorschlagswesen kann man das zum Beispiel sehen. Leute machen einen Vorschlag und dann ist die Erwartungshaltung, dass sich jemand dem Problem annimmt und es irgendwie löst. Wir möchten, dass Beschäftigte selbst Ownership und Verantwortung übernehmen. Das kann man nicht unbedingt von jedem Einzelnen erwarten, aber von Teams. Das heißt, überspitzt formuliert, nicht nur verwalten und Aufgaben Anderen zuschieben oder darüber streiten, wer jetzt eigentlich zuständig ist. Viel mehr möchten wir eine Kultur prägen, in der man Verantwortung übernimmt.

Wie kommt man dahin?

Es muss konsequent vorgelebt werden – vor allem von Führungskräften. Der Wandel ist immer stark personengetrieben. Das Ganze wird oft nur von Wenigen initiiert, vielleicht drei bis vier Treibern, die damit gute Erfahrungen gesammelt haben oder der Sache offen gegenüberstehen. Um dann nachhaltig in die DNA des Unternehmens überzugehen, müssen aber Viele mitziehen. Es darf letztlich nicht mehr nur von einzelnen Personen abhängen, sondern muss Teil der Organisationkultur werden. Das bedeutet viel Überzeugungsarbeit. Der Mehrwert des Ganzen muss immer wieder erklärt werden. Zentral ist die Erkenntnis, dass man selbst etwas davon hat, wenn man sich einbringt. Das braucht natürlich auch Freiräume, die einem jemand geben muss. Wir propagieren das auch gar nicht groß und sagen: „So, ab jetzt arbeiten wir agil“. Es kann sogar kontraproduktiv sein oder abschreckend wirken, Projekte mit „agil“ zu labeln. Wir geben stattdessen Rahmenbedingungen vor und versuchen durch Motivation und Empowerment Leute davon zu überzeugen, auch selbst Entscheidungen treffen zu können.

Was sind die größten Herausforderungen auf dem Weg zu agilen Strukturen?

Es wird schwierig, wenn sehr unterschiedliche Charaktere aufeinandertreffen. Es gibt ja verschiedene Formen der Führung. Wenn jemand Agilität nicht zulässt und einen althergebrachten Leadership-Style hat, ist das der größte Hemmschuh. Sie brauchen eine Führungskraft, die Handlungsspielräume gibt und es ermöglicht, Dinge einfach mal auszuprobieren.

Wie hat sich denn Ihre Führung verändert?

Ich habe mich immer in Strukturen mit kurzen Entscheidungswegen am wohlsten gefühlt. Wenn ich Budgetverantwortung habe, möchte ich mir nicht für jede Entscheidung erst einmal mehrere Unterschriften einholen und dafür Foliensätze erstellen. Ich habe dann gerne auch den Handlungsspielraum, mit meinem Team zu entscheiden, wie ich die Mittel am besten zur Erreichung des Ziels einsetze. Der Reporting-Aufwand ist in einer hierarchischen Top-Down-Organisation oft enorm, was die Prozesse verlangsamt. Eine Entscheidung hängt dann möglicherweise von einer Person ab, die gar nicht die Zeit hatte, sich intensiv mit dem Anliegen auseinanderzusetzen. Ich denke, diese Erfahrung hilft mir, auch andere vom Mehrwert individueller Verantwortungsübernahme zu überzeugen.

Wie groß ist die Verlockung, in Krisenzeiten in alte Muster zurückzufallen?

Die Verlockung ist gegeben, keine Frage. Aber man muss aufpassen, dass man für kurzfristigen Erfolg nicht die Zukunftsthemen verspielt. Natürlich könnte ich jetzt sagen, dass die Kollegen aus der Produktion jede Minute am Band stehen müssen, damit wir unsere Aufträge schnellstmöglich abarbeiten. Aber ich brauche sie auch, weil sie uns dabei helfen, die Produktionslinien der Zukunft mitzugestalten. Und das ist für unsere langfristigen Ziele sehr wichtig. Da muss ich auch selbst drauf achten, nicht in alte Muster zurückzufallen.


Stephan Jorra ist Werk- und Betriebsleiter im Schaltwerk Berlin der Siemens Energy.

Zurück

Beitrag teilen: