Wie arbeitet ein agiler Coach?

von Julian Caligiuri

Dr. Kay Hildebrand ist agiler Coach bei der viadee Unternehmensberatung AG in Münster. Im Interview erklärt er, wie sein Arbeitsalltag aussieht, welchen Missverständnissen er begegnet und woran agile Projekte scheitern können.

Sie sind agiler Coach bei einer Unternehmensberatung in Münster. Mit welchen Zielen und Erwartungen kommen Unternehmen zu Ihnen?

Zu uns kommen typischerweise Klienten mit dem Wunsch, agiles Arbeiten in ihren Unternehmen zu etablieren. Das kann auf sehr unterschiedlichen Flughöhen sein: Manche wollen sich komplett transformieren, andere möchten das in einem einzelnen Bereich oder ein agiles Team installieren. Manche haben auch bereits erste Erfahrungen mit agilem Arbeiten gesammelt und kommen mit sehr spezifischen Anliegen beispielsweise zu Führung, Architektur oder Anforderungsanalysen und suchen dabei Unterstützung von agilen Coaches. Das Einsatzgebiet hat bei uns fast immer einen IT-Bezug und es sind häufig größere Unternehmen, die sich eine eigene IT-Abteilung leisten können. Derzeit ist das viel im Bereich Versicherungen, Banken, im Einzelhandel und dem öffentlichen Sektor.

Wie gehen Sie als Coach an diese Aufgaben heran?

Grundsätzlich unterscheidet sich Coaching von Beratung. Ein Coach sagt nicht, was genau zu tun ist und wie es richtig geht. Ich komme nicht mit der Haltung: „Ich zeig euch jetzt mal, wo es lang geht“, sondern ich begleite einen Prozess. Wir sprechen zunächst über Ziele. Sobald die klar sind, kann ich auch gezielt unterstützten. Dabei ist es dann manchmal notwendig Methoden einzubringen, sich um Konflikte zu kümmern oder vielleicht mal einen Workshop zu moderieren.

Dr. Kay Hildebrand bei einer internen Veranstaltung der viadee AG.

Wie fängt sowas an?

Ich mache eine konkrete Auftragsklärung. Wer auf der Suche nach der perfekten Schablone für die digitale Transformation ist, wird scheitern, weil es die nicht gibt. Aus Sicht der viadee ist das immer eine individuelle, komplett auf die Situation des Unternehmens angepasste Vorgehensweise, die durch die Beteiligten vor Ort erarbeitet und von einem agilen Coach unterstützt wird. Viele wünschen sich, dass ich mit der perfekten Lösung ankomme. Das funktioniert nicht. Sobald das von den Beteiligten verstanden wird, geht es darum, wahrzunehmen, viel zuzuhören, mitzubekommen, wie die Abläufe sind, wo die Schmerzpunkte liegen, welche Themen am meisten drücken. Im nächsten Schritt wird ein grundsätzliches Vorgehensmodell für die Veränderung etabliert. Das passiert schon agil, nämlich iterativ und inkrementell – also in kleinen Schritten vorwärts gehend und aus sich heraus wachsend. Genau so ist der Veränderungsprozess selbst auch. Ich mache keinen Veränderungsprozess, in dem ich sage: So, ab morgen läuft alles agil. Das funktioniert nicht und das sollte man auch nicht anstreben. Die Vorgehensweise ist immer Schritt für Schritt: Ausprobieren, was gut funktioniert, ggf. anpassen, neu überlegen und so weiter.

Wann sehen Sie dann Ihre Aufgabe erfüllt?

Wir machen vorab Ziele fest. Wenn die Zieldefinition am Anfang gut ist – also spezifisch, messbar, realistisch, testbar – dann kann ich auch irgendwann feststellen, ob wir ein Teilziel erreicht haben. Ob das dann nur ein kleiner Schritt auf dem vereinbarten Weg ist, hängt stark von dem Gesamtziel ab. Wenn es zum Beispiel darum geht, ein kleines Team auf den Weg zu agilen Arbeitsweisen zu bringen, kann es sein, dass ich nach einigen Sprints feststelle, dass das Team verstanden hat, wie das Vorgehensmodell funktioniert und ich kann mich da langsam rausziehen. Das variiert aber sehr stark. Den Punkt, an dem man als Coach denkt „Jetzt bin ich fertig“, den gibt’s nie. Es gibt nur das Gefühl, dass ich immer weniger relevant für methodische Fragen werde und bestimmte Mechanismen im Team verinnerlicht wurden: die Betroffenen arbeiten transparent, wissen, dass Vollständigkeit eine Illusion ist, starten Experimente und wenden das auf neue Sachen an. Dann zieht man sich immer mehr zurück – die Feedbackgespräche werden kürzer, das ist immer ein guter Indikator.

Können Sie das an einem Beispiel festmachen?

Wir hatten aktuell den Auftrag ein agiles IT-Projekt im öffentlichen Sektor zu initiieren. Es ging darum ein Service-Portal für Kunden zu entwickeln. Spezielles Augenmerk lag hier auf Inklusion, also der Möglichkeit für Menschen mit Behinderung dort auch aktiv zu werden. Der Anspruch war ein funktionsübergreifendes Team, das nach Scrum arbeitet und in der Lage ist, das Produkt selbst bauen zu können. Zunächst haben wir das Projekt aufgesetzt; die Phase geht oft schnell. Die Personalien sind klar: Product-Owner, Scrum-Master und Entwicklungsteam. Dann kommen zwei bis drei Wochen intensive Arbeit, bis das Backlog steht – also eine Liste von Anforderungen, die priorisiert sind. Nach dem Kickoff geht’s dann los und die eigentliche Arbeit fängt an, das Team an die Vorgehensweisen zu gewöhnen, sich alte Reflexe abzutrainieren und Verhaltensweisen zu spiegeln. Die Zusammenarbeit verändert sich zu vorher: Häufigere Anteilnahme, dafür nicht so intensiv und umfassend, sondern immer nur punktuell. Am Montag wurden die Ergebnisse der Sprints den Stakeholdern vorgestellt und das war ein sehr schöner und transparenter Punkt zu sagen: Ok, wir haben jetzt die Voraussetzung geschaffen, dass das Entwicklungsteam in der Lage ist zu laufen. Der Rest ist dann operative Begleitung und Feinjustieren.

Agiles Arbeiten kommt ursprünglich aus dem Software-Bereich. Wie lässt sich das auf andere Bereiche übertragen?

Für mich ist Agilität ein Dreiklang aus Werten, Vorgehensmodellen und Entwicklungspraktiken. Entwicklungspraktiken sind sehr spezifisch für einen Bereich, in dem man unterwegs ist und lassen sich nicht unmittelbar auf andere Bereiche anwenden – z.B. Clean Code im Bereich Software. Vorgehensmodelle wie Scrum oder Kanban sind dagegen in vielen Bereichen anwendbar. Und vor allem das Mindset – Transparenz, Iterativität, inkrementelles Vorgehen – sind komplett domainunabhängig und funktionieren in allen Bereichen; Banking, Finance, Health Care usw. Die Branchen und Unternehmen haben nur oft unterschiedliche Voraussetzungen und Herausforderungen. Behörden haben ein stärkeres hierarchisches Denken und ein größeres Bedürfnis, Dinge mit Organigrammen festzulegen und zu regeln als ein Startup. Fintechs sind natürlich anders aufgestellt als Konzerne mit 5000 Beschäftigten, die es seit 150 Jahren gibt.

Was ist die größte Herausforderung auf den Weg zu mehr Agilität?

Im ersten Schritt muss ich den Leuten klar machen, dass es mit Agilität deutlich mehr auf sich hat als ein Tool einzuführen, das agiles Arbeiten unterstützt. Tooling ist die sichtbarste Ebene und gleichzeitig die am wenigsten wirkungsvolle. Ich kann zwar ein Tool einführen, aber damit ändere ich nicht, wie die Leute arbeiten. Die arbeiten dann genau so wie vorher, nur eben mit einem anderen Tool. Es geht beim agilen Arbeiten um Vorgehensmodelle und Praktiken, die meine Arbeit wirklich verändern. Dahinter stehen Strukturen und die Art und Weise, wie Führungskräfte mit ihren Leuten umgehen. Die größte Herausforderung ist, den Leuten klar zu machen, dass Agilität eine Veränderung des persönlichen Mindsets ist. Das macht man nicht eben mal so und das kann ich auch nicht einfach vorschreiben. Als agile Coaches versuchen wir hier beim Reflektieren zu helfen und Impulse zu setzen. Bei diesem Prozess begegnet es einem durchaus, dass Leute eigentlich ganz zufrieden mit ihren Problemen sind und die gar nicht loswerden wollen, weil sie sich dran gewöhnt haben. Den nächsten Schritt kann ich erst gehen, wenn jemand bereit ist, sich zu ändern und versteht, wohin es gehen kann.

Stößt man da irgendwann an seine Grenzen und muss abbrechen?

Das kommt vor. Das fehlende Mindset ist aber kein Abbruchkriterium. Wenn es das schon gäbe, bräuchte man mich nicht. Aber wenn es einflussreiche Personen gibt, die bewusst gegen das Vorhaben schießen und damit erfolgreich sind, kann es sein, dass man abbrechen muss. Wenn es Leute gibt, die nicht mitgehen wollen und das überhandnimmt, dann gibt es keine Veränderung. Ich hatte einmal ein Team, die waren alle sehr nett und freundlich und gleichzeitig überhaupt nicht bereit irgendwas zu ändern. Wir haben es natürlich versucht und verschiedene methodische Ansätze mitgebracht, aber es gelang nicht das in den Arbeitsalltag zu integrieren und so haben wir das abgebrochen.

Aber wer hat dann den Prozess initiiert? Wurde das „von oben“ beschlossen, dass das Team agil arbeiten soll?

Ja, das passiert oft. Viele haben auch Fehlvorstellungen zu Agilität – nach dem Motto: Alle machen, was sie wollen. Wenn ich dann komme und sich diese Vorstellung als Irrtum herausstellt, dann kann die Reaktion sein: „Das habe ich mir anders vorgestellt und jetzt kommst Du mir hier mit klaren zu erreichenden Zielen alle drei Wochen, eigentlich möchte ich meine Arbeit gar nicht verändern.“

Woran liegt das?

Natürlich frage ich mich auch immer, ob ich das Problem bin oder ob ich hätte anders vorgehen müssen. Manchmal gibt es aber auch organisatorische Rahmenbedingungen, die Veränderung verhindern. Z.B wenn eine Machtstruktur etabliert ist, die von oben auf die Leute wirkt. Dann heißt es: Ich kann das nicht, wir dürfen das nicht, das geht nicht. Wenn die Leute Angst haben, dann sind sie nicht bereit mutige Schritte zu gehen. Es braucht glaubwürdige Experimentiermöglichkeiten.

Wie wird man denn eigentlich agiler Coach?

Also man macht eine Scrum Master I Zertifizierung und dann kann man direkt loslegen. Nein, Scherz. Es ist sicher vorteilhaft selbst Entwickler zu sein, wenn man sich schnell technisch in ein neues Thema einarbeitet. Für die Kundinnen und Kunden der viadee brauche ich als agiler Coach aber neben fachlichem Verständnis und etwas IT-Knowhow auch ein Grundverständnis für Projektmanagement. Ich muss die Methodik draufhaben – also wie laufen bspw. Scrum und Kanban. Dann habe ich eine methodische Grundlage, mit der ich mit einem Team darüber reden kann, welche Tanzschritte es einüben muss. Dazu kommt viel Selbstreflexion: Wie wirkt mein Verhalten auf andere Leute? Sich ständig selbst zu reflektieren versetzt einen irgendwann in die Lage auch anderen etwas spiegeln zu können. Außerdem kommen noch psychologische Aspekte hinzu, insbesondere Teampsychologie. Und selbst, wenn ich das alles habe, kann es sein, dass ich 25 bin und ein Bereichsleiter von einem 3000-Mitarbeiter-Unternehmen mich nicht ernst nimmt, obwohl ich genau das gleiche sage wie ein 40jähriger Coach. Ich brauche oft eine gewisse Seniorität, um das bedienen zu können, was Organisationen typischerweise erwarten, wenn sie einen agilen Coach beauftragen. Bei uns intern gibt es da eine lange Ramp-Up-Phase, bis jemand ein vernünftiges Paket liefern kann, das unserem Anspruch entspricht. Da gibt’s viel Mentoring und Shadowing und Ausprobieren im geschützten Raum in internen Formaten.

Dr. Kay Hildebrand ist agiler Coach bei der viadee Unternehmensberatung AG mit Sitz in Münster und Köln.

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